Historische Orgel mit neuem, vollen Klang
2013 begann die Restaurierung der 170 Jahre alten Orgel in der Kirche St. Martin ihrem Ende. Das Instrument wurde zu rund 75 Prozent erneuert. Jede Orgel wird individuell auf die baulichen Gegebenheiten der jeweiligen Kirche angepasst – Raumgröße und -akustik finden dabei ebenso Berücksichtigung wie die konfessionell geprägte Liturgie, die Konzertliteratur der Epoche, in der das Instrument gebaut wird – kurzum: das musikalische Werk, das es mit der Orgel zu spielen gilt.
Auch Orgelbauer und die Organisten bestimmten Gestalt und Klangvolumen einer Orgel maßgeblich mit, und so verwundert es nicht, dass eine Orgel auch viel über ihren Erbauer verrät. Und so offenbart die Witterdaer Orgel, dass Johann Michael Hesse aus Dachwig, der sie schuf, durchaus dazu neigte, seine Instrumente zu groß zu dimensionieren. Zugute zu halten ist ihm allerdings, dass er das größtmögliche Klangvolumen – erzeugt durch die tiefen Töne der großen Orgelpfeifen – erreichen wollte, also jenen Gänsehaut verursachenden Klang, der auch heute noch bei Konzerten und Gottesdiensten die Zuhörer begeistert. Die Kehrseite der Medaille: Große Orgelpfeifen benötigen viel Wind, damit sie ertönen können, und dieser war mit der klassischen Mechanik nur mit immensem Kraftaufwand, mitunter aber auch gar nicht mehr zu erzeugen. Das heißt, eine solche Orgel war nur sehr schwer spielbar.
Zur Beurteilung der Spielschwere einer Orgel wird der Kraftaufwand gemessen, mit dem eine Taste gedrückt wird. Im Schnitt sind das bei heute gebauten Instrumenten zwischen 140 und 200 Gramm pro Taste, pro Hand also zwischen 700 und 1.000 Gramm. Die Witterdaer Orgel jedoch verlangte dem Organisten rund 400 bis 1.000 Gramm pro Taste ab, also pro Hand zwei bis vier Kilo. Das ist selbst für Virtuosen eine kaum zu leistende Schwerstarbeit.
Folgerichtig wurde als ein wichtiges Ziel der Restaurierung die Erleichterung des Orgelspiels in den Fokus gerückt. Erstmals wurden deshalb auch die Windladen aus der Orgel ausgebaut und in ihrer Konstruktion so optimiert, dass jetzt mit einem Tastendruck von 200 bis 300 Gramm musiziert werden kann. So kann das Instrument seine vielfältige Klangfarbe – vielleicht erstmalig – in vollem Umfang darbieten.
Das zweite – wohl größte Problem für die Restaurierung war der Holzwurmbefall. Besonders in den sensiblen Bereichen der Orgel – in der Mechanik und den kleinen und mittleren Holzpfeifen – hat der Holzwurm erhebliche Schäden verursacht. Das kommt nicht von ungefähr, denn hier kommen die härtesten Hölzer zum Einsatz wie z.B. Weißbuche. Und die wird vom Holzwurm besonders geliebt. Wird der Befall offenkundig, ist es bereits zu spät, und die Holzelemente sind unrettbar verloren. Aber auch an Tragwerk, Mechanik und Blasebalg hat die Zeit deutliche Spuren hinterlassen und sie mussten in weiten Teilen erneuert werden. Nicht zuletzt galt es, das Dach abzudichten, damit künftig Flugschnee und Nässe die Orgel nicht beschädigen können.
Der Blasebalg, der die Orgelpfeifen mit Wind versorgt, wurde wieder in den Turm der Kirche verlegt, wo er ursprünglich positioniert war.
Die Intonation – ein hochkomplexer und diffiziler Vorgang, der alle 1.800 Orgelpfeifen zum Klingen bringt und sie so aufeinander abstimmt, dass das Instrument ein einzigartiges Klangerlebnis vermittelt, schloss die umfassende Restaurierung ab. Jede Pfeife ist als vollständiges Musikinstrument zu betrachten, auch wenn es nur einen einzigen Ton abgibt. Bei den neuen Holzpfeifen muss dieser Ton überhaupt erst einmal durch die Instrumentenbauer erzeugt, Klangfarbe und Tonstärke müssen ausgebildet werden. Bei den Holzpfeifen, die erhalten werden konnten, ist eine Feinjustierung unerlässlich. Das betrifft auch die zahlreichen Metallpfeifen, die aus einer relativ weichen Legierung von Zinn und Blei bestehen.
Seit einigen Jahren nun ist diehistorische Hesse-Orgel wieder ein Instrument mit vollem, neuen Klang und leichter zu spielen denn je.
Autor: B. Köhler Fotos: B. Köhler